„That’s not moving, that’s moving“[1]
Samuel Beckett

o.T., 1993, Öl/LW, 100 x 150 cm
Abb. 1

Wie Staub von Sternen fallen Tupfer, Linien, Pigmente. Ein heller Streif auf schwarzem Fond. Aus fremden Gefilden, scheint’s, weht er Fontänen, Schleier oder Sturmböen. Weiß bis chamoisfarben. In der Erinnerung wird sie golden, diese Linie aus einer Bewegung, einem Pinselzug. Dieser eine Pinselschwung ist durchlässig, irisierend, atmet geradezu. Webt und rauscht, flirrt und schnurrt, zieht seine Bahn über das monochrome Schwarz.

o.T., 2017, Öl/LW, 180 x 160 cm
Abb. 2

In seinen abstrakten Bildern verleiht Marius Heckmann der Linie – die als bildbestimmendes Element eher in den Bereich des Zeichnerischen gehört – einen verblüffend malerischen Charakter. Es ist die Innenansicht einer Linie, die jeder dieser, mit breitem Pinsel angelegten, Solitäre evoziert, und mit der Heckmann eine physische Offenheit erzeugt, die im Nachbild eine fein gewebte Stofflichkeit hervorruft.

o.T., 1992, Öl/LW, 180 x 160 cm
Abb. 3

Mal spannen sich diese Linien (manch eine bis zu eineinhalb Metern lang) zu einer diaphanen Flächigkeit, mal verlaufen mehrere in feinen Parallelen. Dann wiederum kreuzen sich zwei. Kometengleich. Blicke in ferne oder innere Welten, wie durch ein Teleskop. Man denkt an dynamische Sternenhaufen, vielleicht an die Corona Borealis. Jenes Sternbild, das Dionysos einst aus dem Brautkranz der Ariadne als Nördliche Krone ans Firmament warf.

 

 
Der Ariadnefaden hinter den Schemen

o.T., 2017, Öl/LW, 180 x 160 cm

Abb. 4

Doch Marius Heckmann malt in den hier vorliegenden Zyklen keine Sternbilder. Und wenngleich wir ab und an Kumuli zu entdecken meinen: Es geht nicht um Wolken, Spiralnebel oder ähnliche Naturerscheinungen. Heckmanns Abstraktionen gehen den Dingen hinter dem Sichtbaren auf den Grund.

2006 schreibt der Maler in Die Geschichte vom Mann im Ohr: „Man stelle sich vor, jemand seile sich mit einem Ariadnefaden, via Gehörgang, in die eigenen Gehirnwindungen ab.“[2] Eine verlockende Vorstellung, die Heckmann da entwirft: nicht nur in unser Innerstes hineinhorchen, sondern die Irrungen und Wirrungen dieses Labyrinths gelegentlich in situ in Augenschein nehmen zu können. Und Ariadne reicht uns den mythischen Faden, an dem wir uns hinaufseilen, wieder zu uns selbst kommen können. Wie in Ohne Titel von 2017 (Abb. 4), wo er sich in feine Lineaturen verwandelt, an denen wir durch den schwarzen Raum klettern, wandern und wandeln können. Am oberen Rand scheint die Krone angedeutet. Einmal mehr überlistet Ariadne den Minotaurus — aus Zuneigung zu Theseus, aus Zuneigung zu uns, den Betrachtern — und zieht sich als roter Faden durch die Bilder von Marius Heckmann.

o.T., 2007, Öl/LW, 100 x 150 cm

Abb. 5

Aber, so Michel Foucault in Der gerissene Faden: „Ariadne war es müde, auf Theseus' Wiederkehr aus dem Labyrinth zu warten, auf seinen monotonen Schritt zu lauern und sein Gesicht unter all den flüchtigen Schatten wiederzuerkennen. Ariadne hat sich erhängt. An der aus Identität, Erinnerung und Wiedererkennung verliebt geflochtenen Schnur dreht sich ihr Körper nachdenklich um sich selbst. Der Faden ist gerissen. Theseus kommt nicht wieder. Er rennt und rast, taumelt und tanzt durch Gänge, Tunnels, Keller, Höhlen, Kreuzwege, Abgründe, Blitze und Donner...“[3]

In der unbetitelten Leinwand von 2007 (Abb. 5) könnte uns Theseus in seinem Rasen begegnen. Der Brustkorb des attischen Helden als wirbelnde Struktur, deren impulsiver Rhythmus den Thorax in Auflösung begriffen zeigt.

Im Labyrinth des bewussten Zufalls

Die an Drippings erinnernden Linien, der expressiv anmutende Duktus ebenso wie das bevorzugte Schwarz des Hintergrunds lassen zunächst auf die Tradition des nordamerikanischen Abstrakten Expressionismus’ der 1950er-Jahre schließen. Jenes Tropfen und Schleudern der Farbe, durch das Jackson Pollock berühmt wurde – das ursprünglich allerdings auf Max Ernst zurückgeht –, jene Vorherrschaft von Emotion und Spontaneität des Action Painting oder die Black Paintings der New York School.

Bei genauer Betrachtung jedoch erscheint Marius Heckmanns Herangehensweise diametral. Er arbeitet den ersten Bildimpuls akribisch nach und baut ihn aus. Scheinbar Zufälliges entsteht in langen, bewussten Malprozessen. Gestaltung als notwendiger Folgeschritt der Spontaneität.

„Schnell malen war mal!“, sagt er lachend bei einem Atelierbesuch. „Die ersten Abstraktionen von 1992–94 waren noch spontan, da ging es direkt auf die jungfräulich frische Leinwand. Aber schon in der zweiten Phase ab 2006 habe ich die Sachen rausgearbeitet. Habe mit Übermalungen begonnen, weil ich diesen Widerstand brauchte.“[4] 

In den Zwischenzeiten ist der 1957 in Kaiserslautern geborene Künstler seinen Ursprüngen treu geblieben, sagt: „Ich wollte immer realistisch malen.“[5]1976 ging er zum Studium an die Akademie der Bildenden Künste nach Wien. Wurde Meisterschüler des Phantastischen Realisten Rudolf Hausner, von Maximilian Melcher und Josef Mikl. Letzterer prägte den jungen Studenten weniger mit seinen abstrakten Farbkompositionen, als vielmehr durch seine unkonventionelle Lehrmethode. Der Abendakt fand in einem abgedunkelten Raum statt. Es ging also nicht um anatomische Präzision. Gezeichnet wurde mit dem unmittelbaren Blick auf sich räkelnde Modelle. In Emilia Galotti lässt Gotthold Ephraim Lessing den Maler Conti sagen: „Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wieviel geht da verloren!“[6]  Rund zwei Jahrhunderte später verkürzt Mikl diesen Weg mit seinem Diktum „Hingucken und machen!“[7] .

Im Werk von Marius Heckmann verschmelzen die beiden Pole: das künstlerische Handwerk als Voraussetzung einer realistischen Malerei einerseits und das rein sinnliche Erfassen eines Gegenstands oder einer Figur in Bewegung andererseits. Ihre fruchtbare Durchdringung zeigt sich in der Gegenüberstellung der gegenständlichen Zyklen.

Nabel, 2013, Öl/LW, 150 x 135 cm
Abb. 6
o.T., 2017, Öl/LW, 70 x 80 cm
Abb. 7
 
o.T., 2017, Öl/LW, 100 x 70 cm
Abb. 8

Im Abstrahierenden von Bildern wie „Nabel“, 2013 (Abb. 6) oder auch in zwei neuen Aktbildern (Abb. 7 + 8).

Über die Leinwand ziehen irisierende Farbflecke. Für den Künstler gehören sie zu den gegenständlichen Bildern. Wenngleich weder primäre noch sekundäre Geschlechtsmerkmale auszumachen sind. Darüber ließe sich also trefflich streiten. Oder aber, man nähert sich ihnen aus der Perspektive des Künstlers respektive des Figürlichen. Schon bald verdichten sich die tachistisch angeordneten Formationen zu bewegten Gliedmaßen. Nicht jedoch zur mechanistischen Dynamik der Futuristen. Denn die Bewegung selbst ist bei Marius Heckmann abstrahiert. Lässt sich nicht nur real sehen, sondern vielmehr körperlich erspüren. Was der Physis des männlichen Akts ebenso wie der des weiblichen auf der Leinwand ihre originäre Präsenz verleiht.

 

Das Paradoxon Schwarz

Eindeutiger in der Figuration, doch nicht minder spannungsvoll zwischen Gegenstand und Abstraktion changierend, ist die Serie „Boxer“ (Abb. 9), in der die Verschmelzung der stilistischen Pole zu einer Art Membran wird, der Körper zum Wahrnehmungsorgan.

Boxen IV, 2003-2011, Öl/LW, 180 x 160 cmBoxen III, 2003-2011, Öl/LW, 180 x 160 cmBoxen II, 2003-2011, Öl/LW, 180 x 135 cmBoxen I, 2003-2011, Öl/LW, 180 x 160 cm
Abb. 9

„Der Maler »bringt seinen Leib ein«, sagt Valéry. Und in der Tat kann man sich nicht vorstellen, wie ein Geist malen könnte. Indem der Maler der Welt seinen Leib leiht, verwandelt er die Welt in Malerei. Um diese Verwandlungen (transsubstantiations) zu verstehen, muß man den fungierenden und gegenwärtigen Leib wiederfinden, ihn, der nicht ein Stück des Raums, ein Bündel von Funktionen ist, sondern ein Geflecht aus Sehen und Bewegung.“[8] 

D. schlägt C. k.o., 2003, Öl/LW, 180 x 190 cm
Abb. 10

Dieses Geflecht transformiert Heckmann nicht nur in der geradezu filmischen Komposition dieser monumentalen Schwarzweißbilder. In „D. schlägt C. ko“ (Abb. 10) amalgamieren Boxer, Raum und Publikum zu einer tosenden Brandung, auf der die Boxer segeln, und in der noch der fröhliche Lärm hörbar wird.

Die partiell verwischten Konturen in „Boxer“ lassen an Gerhard Richter denken, der die Technik der Verwischung wie kein anderer Gegenwartskünstler besetzt. Doch in der affektiven Wirkung seiner Figuren hebt sich Heckmann davon ab.

Im Umkehrschluss sind die ungegenständlichen Bilder von Dingen untermalt, die wir in den Motiven nicht klar konturiert vorfinden, weil ihre reale Existenz auf einer außerbildlichen Ebene gründet. Für den Betrachter öffnet sich hierin der Gedankenraum.

Die Reduktion auf Schwarz und Weiß ruft insbesondere in den Abstraktionen Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“auf den Plan. Während die Ikone der klassischen Moderne – im Sinne von Malewitschs Suprematismus und dessen revolutionärem Impetus – die Empfindung über das Rationale stellte, geht Heckmann hingegen analytisch vor. Bedient sich heuristischer Methoden für seine Bildfindungen. „Schwarz steht für den Ausschluss von Welt. Das ist ja ein existenzielles Paradox. Man füllt die Leinwand mit Schwarz und dann wird es leer.“[9] 

Die Leere gibt dem Künstler den Freiraum für den Rückzug, für die Besinnung auf das Wesentliche: die Suche nach Wahrheit. Aber es gibt keine Sicherheit. Vom Paradoxon des Kreters Epimenides (Alle Kreter sind Lügner!) bis zu Sigmar Polkes „Die drei Lügen der Malerei“befragt Marius Heckmann immer wieder und radikal unsere Wahrnehmung. Von Kunst und von Welt.

Die Schleier der Bewegung

Der Ausschluss von Welt im Prozess der Bildentstehung setzt aber auch ihr Vorhandensein voraus. Ihre Schleier ziehen sich durch den schwarzen, den leeren Raum. Nehmen in den diaphanen Schichtungen und in den Übermalungen eine ephemere Gestalt an. In diesem Sinne können Heckmanns abstrakte Kompositionen als eine Weiterentwicklung von James Abbott McNeill Whistlers „Nocturnes in Black and Gold“gedacht werden. Bis heute von der Kunstgeschichte eher wenig gewürdigt, hat der amerikanische Tonalist, der vorwiegend in London lebte, die abstrakte Malerei in den 1870er-Jahren vorweggenommen. Aus dem Abstand erwecken diese ganz realen Nachtstücke den Eindruck monochromer Gemälde. Erst die Nahsicht lässt ungefähre Szenarien – durch die aquarellartig gebrauchte Ölfarbe – vage erahnen. Denn, so Whistler: „Wie die Musik die Poesie des Klanges ist, so ist die Malerei die Poesie der Ansicht.“[10] 

Marius Heckmann fügt diesem Sehen eine weitere (abstrakte) Ebene hinzu, indem er das Transluzente durch das kontrastierende Schwarz und Weiß oder auch durch den sparsamen Einsatz von Farbe verdichtet. Der nahezu neutrale Auftrag des Hintergrunds vermittelt die notwendige Distanz, auf der sich das Motiv zu einer Art Gedankenraumerhebt. Den sublimierten Akt des Körperhaften steigert Heckmann zudem, indem er die Ölpigmente mit Tempera versetzt, was in den feinen Erhebungen der Mikrostrukturen subtile Charakterspuren erzeugt. „Etwas, was über das bloß Stoffliche hinaus eine geheimnisvolle Andersartigkeit einschloß“[11] , heißt es im dritten Band von Marcel Prousts Recherche, wo James Whistler, der als Pate für die Figur des Malers Elstir gelten darf, namentlich erwähnt wird.

Körper im Gebirge der Dissonanzen

Bildhafte Assoziationen an den Körper in Raum und Zeit lassen sich in den abstrakten Bildern von Marius Heckmann vielfach entdecken. Manche entfalten die Wirkung von Röntgenaufnahmen oder Fotogrammen. Nicht im Sinne einer fotografischen Lichtmalerei, sondern in ihrem Oszillieren zwischen Materialität und Immaterialität.

o.T., 2010, Öl/LW, 110 x 175 cm

Abb. 12
o.T., 2017, Öl/LW, 80 x 70 cm
Abb. 11

Aus den kraftvollen und zugleich filigranen Pinselzügen – mit ihren gezogenen, gestrichelten oder lavierten Linien – entfalten sich Momente, die an Figuren des Modern Dance erinnern (Abb. 11), an Insekten im Kampf oder Körper im Gebirge der Dissonanzen (Abb. 12), wie Igor Strawinsky sie einst in Le Sacre du Printemps entwarf. Berstend auf der einen Seite, wie ein Feuerwerk der Leichtigkeit auf der anderen.

o.T., 2006, Öl/LW, 115 x 175 cm
Abb. 13

So erscheint das Weiß in der unbetitelten Arbeit von 2005 (Abb. 13) wie gehaucht. Der Begriff des Auftrags klingt – angesichts dieses elfenhaften Spinnwebs, dieses zarten Pilzgeflechts –, hier fast zu schwer. Da ist er wieder, dieser Nachhall, den Heckmanns Bilder evozieren. Gleichsam tröstend und beunruhigend, entfachen sie das neuronale Feuer, über das Aby Warburg in der Einleitung seines Bilderatlas’ Mnemosyne sagt, „dass diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriss bestimmen, den die Künstlerhand schafft.“[12] 

Der Umriss, den Marius Heckmann schafft, aber auch die Membran, durch die sich Innen und Außen durchdringen, wird von derlei Engrammen beflügelt. Wenn der Maler für seine abstrakten Zyklen die Introspektion – als Besinnung und Auszeit von der Gegenständlichkeit – reklamiert, so hat das durchaus etwas Programmatisches. In seiner eingangs erwähnten Geschichte stattet Heckmann den Mann im Ohrmit einer Kamera aus, um „mit dem kalten Licht der Vernunft einzelne Gedanken wenigstens optisch festzuhalten.“[13] 

Der Versuch, mit dem „kalten Licht der Vernunft“Ordnung ins Chaos der inneren Bilder – den Phantasien, Phantasmen und Träumen des Künstlers –, zu bringen, muss naturgemäß scheitern. Führt zu Zweifeln und den Übermalungen.

Der Zweifel als Motor

Das Zusammenwirken dieser Aspekte mag neben anderem in der künstlerischen Biografie gründen. „Es herrschte Krieg in Wien“, erinnert sich Heckmann im Rückblick auf die Studienzeit. Da standen die Vertreter der Wiener Schule des Phantastischen Realismus um Rudolf Hausner als künstlerische Antipoden dem Kreis um die Galerie nächst St. Stephan gegenüber. Zu Letzteren gehörte neben Josef Mikl auch Arnulf Rainer, der mit seinen Zumalungen und Übermalungen Berühmtheit erlangt hatte. Für Rainer stand hierbei die Auseinandersetzung mit fremdem Bildmaterial sowie mit fotografischen Selbstbildnissen im Zentrum. Heckmann hingegen geht es bei den Übermalungen bis heute um die Befragung seines künstlerischen Schaffens. Mit dem Zweifel – am Bild, an den Bedingungen von Gegenständlichkeit und Abstraktion – als produktivem Antrieb. Als Motor für eine kritische und selbstkritische Wachsamkeit, in der die Introspektion eine dialogische ist. In diesen Dialog fließen die äußeren Bilder ein: das Gesehene und die Erfahrung, die historische und kulturelle Wirklichkeit ebenso wie die Archetypen.

o.T., 2017, Öl/LW, 180 x 160 cm
Abb. 14

Derart stellen Zwiesprache und produktiver Zweifel ein Bild von 1992 ein viertel Jahrhundert später schon mal farblich auf den Kopf oder, wie der Künstler es ausdrückt: das 2006 entstandene und 2017/18 übermalte Bild (Abb. 14) habe er „vom Schwarz ins Weiße überführt“. Denn „nach zehn Jahren blickt man anders auf die Bilder.“[14] 

Frei nach Karl Kraus[15]  blicken die Bilder aber auch anders zurück. Der Farbkörper hat sich verändert. Die Pigmente der einst weißen Partien bekommen in der Umgebung des frischen Weiß’ eine gelbe Nuancierung, das Schwarz tönt in den Randzonen wie ein stählernes Blau.

o.T., 2017, Öl/LW, 180 x 160 cm

Abb. 15

Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in der 2010 entstandenen Arbeit, die der Künstler 2017 übermalt hat (Abb. 15). Aus den Nichtfarben Schwarz und Weiß entsteht eine reduzierte, subtil schattierte Farbigkeit. Sie erzeugt eine Raumdynamik, welche die Bewegung aus dem Innen ein Stück weit wieder ins Außen kehrt. Zudem bewirkt die Übermalung eine Wandlung vom Tachistischen hin zu verdichteten Strukturen, mit einer unterschwellig brodelndenRuhe.

o.t., 2006, Öl/LW, 115 x 175 cm
Abb. 16

Das lässt in diesem Bild oder auch in Ohne Titel/2010 (Abb. 16) an eine aufgespannte Haut denken. An Marsyas, den phrygischen Satyr, der Apollon zum musischen Wettstreit herausforderte, durch eine List des Musen-Gottes unterlag und gehäutet wurde.

Standen Apollon und Marsyas noch bis ins 19. Jahrhundert für den Sieg der hohen über die niedere Kunst, so verweist Heckmanns Œuvre auf den dualistischen Charakter des Mythos’ und das dialektische Prinzip. Der Maler spannt das Bewusstsein als „dünne Haut über einem Nichts“[16] . Die Leinwand wird symbolisch zur (geschundenen) Haut des Künstlers.

 

Farbbewegung im leeren Raum

Bisweilen setzt Heckmann auch in den Abstraktionen Farbe ein. Wohlüberlegt, sparsamgebraucht, fast skrupulös. So, als hätte der Maler die Worte Agnes Martins im Hinterkopf: „Die Leute denken, in der Malerei gehe es um Farbe / Es geht hauptsächlich um Komposition / Komposition ist alles“[17] .

o.T., 2017, Öl/LW, 175 x 170 cm

Abb. 17

Ein Pink in Ohne Titel/2017 (Abb. 17) hebt die Komposition der Gitterstruktur auf dem schwarzen Sockel dezent an. Untermauert ein ungefähres Geschehen, ohne selbst in den Vordergrund zu drängen. Ob das Doppelgitter für eine Art lineares Rhizom steht, für einen Schnitt durch das Erdreich oder aber für Rainer Maria Rilkes „hinter tausend Stäben keine Welt“, wie es in Der Pantherheißt, bleibt offen. Respektive wir, die Betrachter, können „der Glieder angespannte Stille“[18]  mit unseren eigenen Sinnen erforschen, mit unserem Körper sehen.

Und wenn Marius Heckmann sich auf die Theorie Pierre Bourdieus beruft, so setzt seine Kunst doch auch einen zeitgemäßen Kontrapunkt zur Erkenntnis des französischen Soziologen. Laut Bourdieu ist „das »Auge« ein durch Erziehung reproduziertes Produkt der Geschichte“ und die Rezeption von Kunst beruht auf einem Akt, der die „Dechiffrierung oder Decodierung, der die bloße praktische oder bewußte und explizite Beherrschung einer Geheimschrift oder eines Codes voraussetzt“[19] .

Heckmanns abstrakte Bilder entfalten eine Sinnlichkeit, die jenseits der kulturellen Codes unmittelbar und geradezu körperlich erfahrbar wird. „Jemand, der nur noch Auge ist, sieht nicht“[20] , notiert Agnes Martin. Ob das oben erwähnte Gitterbild vom minimalistischen Werk der abstrakten Expressionistin inspiriert wurde, ist zweitrangig. Ebenso wie die Frage nach der Nähe der Schwarzweißbilder zu den Black Paintings der New York School. Das Schwarz stand seinerzeit für das Ende der Malerei, und während Franz Kline in seinen monumentalen Schwarzweißbildern stets auf einen expliziten Gegenstand rekurrierte, Frank Stella seinen Abstraktionen politisch konnotierte Titel gab, entsteht Heckmanns ganz eigener Duktus und die besondere Energie seiner Bilder aus der Fokussierung des leeren Raums und der Bewegung. In Zeiten der Eliminierung des Raums durch die rasant fortschreitende Virtualisierung der Welt und des Menschen kein unbedeutendes Unterfangen.

Pinsel-Körper-Geflechte
Friedrich I, 2002 - 2005, Öl/LW, 180 x 170 cm Friedrich II, 2002 - 2005, Öl/LW, 180 x 160 cm Friedrich-III,-2005
Abb. 18: Friedrich, drei Teile, 2002 - 2005    

 

Kunst II (Arnulf Messerschmidt-Übermalung, 2005-18, Öl/LW, 135x180 cm

Abb. 19

Eine konkrete Auseinandersetzung mit der Kunst der Anderen findet bei Heckmann vornehmlich in den gegenständlichen Zyklen statt. Eingebettet in einen konzeptuellen oder auch gesellschaftlichen Kontext. Wie im Landschafts-Triptychon „Friedrich I–III“ (Abb. 18) oder in der Adaption einer Messerschmidt-Übermalung von Arnulf Rainer (Abb. 19) für das Projekt „Portrait H. - Die gescheiterte Hoffnung“ im Jahre 2005.

o.T., 2006, Öl/LW, 170 x 140 cm
Abb. 20

In den abstrakten Bildern tauchen rezeptionsästhetische Verweise nur vereinzelt auf. So scheint in einer Leinwand aus dem Jahre 2006 (Abb. 20) die Auseinandersetzung mit Gerhard Richter auf. Doch wenngleich Heckmann Richter als für ihn wichtigen Maler nennt, ist dessen Widerhall in den Abstraktionen indirekt, auf einer nicht sichtbaren Hintergrundebene zu finden. In erster Linie zeichnet sich diese Beschäftigung im Sowohl-Als-Auch von Figuration und Abstraktion ab, im stilistisch (scheinbar) Disparaten. Im bewussten Verzicht auf Wiedererkennbarkeit und auf die eine Handschrift des genialischen Künstlers, wie wir es beispielsweise auch im Werk des Amerikaners Ross Bleckner finden.

Indem Heckmann sich der Verfahren einer stilpluralistischen Gegenwart bedient, hebt sich das Werk von zeitgenössischen oder zeitgeistigen Tendenzen ab. Von der Farbfeldmalerei aus der Sprühpistole einer Katharina Grosse ebenso wie vom Neoexpressionismus des Österreichers Herbert Brandl oder Daniel Richter, der Anfang der 2000er-Jahre einen radikalen Schnitt von den abstrakt-ornamentalen Anfängen zu seinem expressiven Realismus vollzog und sich mittlerweile einer figurativen Abstraktion zuwendet.

Marius Heckmanns stetes Alternieren der Bildprogramme lässt auf eine andere Befragung der Malerei schließen. Seine Auseinandersetzung mit kunstgeschichtlichen wie auch gesellschaftlichen Modellen in den gegenständlichen Phasen hinterlässt Spuren, die sich in den abstrakten Bildern ablagern und sie untergründig durchdringen.

Diese innere Bewegung führt zu einer Verschmelzung von Geist und Materie, ähnlich wie wir sie in der Aktionskunst der japanischen Gutai-Gruppe antreffen. Künstler wie Kazuo Shiraga begannen ab 1954, die Farbe mit dem ganzen Körper aufzutragen und entwickelten eine dynamische Körpermalerei, die den informellen Gestus ins Dramatische steigert. Wenige Jahre später schuf Yves Klein seine „Anthropometrien“, in denen der Körper die Funktion des Pinsels übernahm.

o.T. sw, 2006, ÖL/LW, je 40x115 cm

Abb. 21

Marius Heckmann verfällt nicht der Dramatisierung, ebenso wenig benutzt er den Körper als lebendigen Pinsel. Seine Abstraktionen gelangen zu einer Metaebene, die sich nicht im Metaphysischen verliert. Vielmehr betonen sie das Physische im Sinne einer unmittelbaren Aufhebung des Gegensatzes von Geist und Materie. Wenn wir den Körper nicht als Gegensatz zum Geist auffassen, sondern als Merleau-Pontys Geflecht aus Sehen und Bewegung.

Spinnen wir Michel Foucaults Fabel in diesem Sinne weiter. Ariadne muss sich nicht länger erhängen. Sie hat ihren Faden selbst zerrissen, den Brautkranz am Firmament zu Sternstaubaufgelöst.

Die kretische Königstochter inszeniert ihre eigene Version des Mythos’ – ohne Theseus, den Verführer, ohne Dionysos, den Entführer, und ohne den Stier. Heckmanns Bildwelt verknüpft den Ariadnefaden zu neuen Impulsen.

Michaela Nolte, Berlin 2018

 

Anmerkungen

1 Samuel Beckett Whoroscope, zitiert nach: Samuel Beckett Bruce Nauman, S. 39, Kunsthalle Wien, 2000.
2 Marius Heckmann Malerei Teil 1, S. 6, Berlin, 2006.
3 Michel Foucault Der Ariadnefaden ist gerissen in: Gilles Deleuze | Michel Foucault Der Faden ist gerissen, S. 7, Merve Verlag, Berlin, 1977.
4 Marius Heckmann im Gespräch mit der Autorin, Berlin, 2017.
5 ebd.
6 Gotthold Ephraim LessingEmilia Galotti, S.9, Reclam Stuttgart, 1980.
7 Josef Mikl zitiert nach: Marius Heckmann im Gespräch mit der Autorin, Berlin, 2017.
8 Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, S. 278, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2003.
9 Marius Heckmann im Gespräch mit der Autorin, Berlin, 2017.
10 James Abbott McNeill Whistler Die feine Art sich Feinde zu machen, S. 12, Haffmanns Verlag Zürich, 1984.
11 Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 3, Die Welt der Guermantes, S. 30, Rütten und Loening, Berlin, 1975.
12 Aby Warburg Werke in einem Band, Hrsg.: Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ludwig, S. 631, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
13 Marius Heckmann Malerei Teil 1, S. 6, Berlin, 2006.
14 Marius Heckmann im Gespräch mit der Autorin, Berlin, 2017.
15 Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ Karl Kraus Aphorismen, Sprüche und Widersprüche, Pro domo et mundo. Nachts, S. 483, Suhrkamp-Taschenbuch, Frankfurt/Main, 1986.
16 Marius Heckmann Bilder 1992-1994 Wiener Bilder, Neustadt/Wstr., 1996.
17 Agnes Martin Writings / Schriften, Hrsg. Dieter Schwarz, S. 45, Kunstmuseum Winterthur, Cantz Verlag, Ostfildern, 1991.
18 Rainer Maria RilkeLyrik und Prosa, Hrsg. Dieter Lamping, S. 204, Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich, 2003.
19 Pierre BourdieuDie feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, S. 19f., Suhrkamp, Frankfurt a. M, 1987.
20 Agnes Martin, a.a.O., S. 24