Fliegen. Stürzen. Taumeln.

Zum Motiv des Fluges in den Gemälden von Marius Heckmann von Regine Rapp


Katalog, Marius Heckmann, 2008

Die Arbeiten des Berliner Malers Marius Heckmann sind durchzogen von historischen sowie medialen Bezügen, deren Motive sowohl auf kunsthistorischen, literarischen, politischen als auch psychologischen Quellen basieren.

„Ich möchte mit jedem Bild, das ich finde und sammle, auf gleiche Weise verfahren, ob es sich nun um ein Bild aus einer Illustrierten oder um ein erhabenes Landschaftsbild der Romantik handelt“, erklärt Marius Heckmann.
„Es geht mir um die Form einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit.“1
Die radikale Gleichsetzung von High und Low, die Kombination medialer, oftmals trivialer Themen mit sublimen Motiven, entlädt sich in zahlreichen aktuellen Bildserien des Künstlers. Heckmann, der nicht nur Bildender Künstler sondern auch ausgebildeter Psychologe ist, fordert eine ständige Auseinandersetzung mit Bildern: „Wichtig für mich ist die permanente Grenzüberschreitung, um Möglichkeiten für einen Bilderdiskurs zu finden.“2
Seine Bildzyklen mit kontrastreichen Themen waren an verschiedenen öffentlichen Orten Berlins in den letzten Jahren ausgestellt. Neben stilistischen und motivischen Zitaten aus dem Barock, der Romantik und anderen kunsthistorischen Epochen hat Marius Heckmann eine eigene Ikonographie entwickelt, die nicht selten den Kontext der Psychologie zugrunde legt. Auffallend ist die ständige Wiederkehr des Motivs des Fluges in seinen Bilderzyklen: Sei es ein Fliegen, ein Stürzen oder ein Taumeln – das Konzept des Fluges erweist sich in seinen Arbeiten der letzten Jahre als ein markantes Leitmotiv. Anhand ausgewählter Bilderzyklen wird dies im folgenden genauer erörtert.


Fliegen
Das Portrait der Dichterin Sylvia Plath in zwei Bildern besteht aus einem monumentalen Diptychon, das anlässlich des vierzigsten Todestages der englischen Dichterin mit einem Zitat eines ihrer Gedichte 2003 in der Garagen-Galerie in Berlin Friedrichshain gezeigt wurde.
“I am inhabited by a cry./ Nightly it flaps out./ Looking, with its hooks, for something to love.” (“Ich bin bewohnt von einem Schrei./ Nachts flattert er
aus./ Und sucht mit seinen Haken nach etwas zum Lieben.“)3 lautet der Ausschnitt aus Plaths Gedicht „Elm“ („Ulme“) von 1962.

Eines der beiden Gemälde stellt in monumentaler Größe einen weit aufgerissenen Mund mit Zähnen dar, welches sich auf eine Fotografie einer Zahnfehlstellung bezieht. Die überdimensionierten Schneidezähne weisen auf den falschen Biss hin. Es wird ersichtlich, wie sich über Jahre hinweg die Zähne des Unterkiefers in die Schneidezähne eingegraben und diese (ab)geschliffen haben. Bedrohlich wirkt die große Nahaufnahme nicht zuletzt auch durch die Schwarzweißkontraste.

Das andere, ebenfalls überlebensgroße Gemälde zeigt eine weiße Taube, die aus dem Bild uns Betrachtern direkt entgegenfliegt. Ihre weit
ausgebreiteten Flügel reichen fast bis zu beiden Rändern des horizontalen Bildformats. Der Kopf der Taube neigt sich leicht zu ihrer linken, dabei hebt sich das Schwarz um ihr rechtes Auge herum vom Weiß ihres Gefieders ab. Ihre sichtlich gespreizten Krallen vermitteln etwas Bedrohliches.

Marius Heckmann, der mit dem Werk Plaths wohl vertraut ist, überträgt die poetischen Zeilen Plaths einerseits mit einer direkten Spiegelung: Der Schrei verwandelt sich in der bildlichen Darstellung in einen weit aufgerissenen Mund, für die nächtliche Suche nach Liebe im Text steht das Bild der fliegenden Taube. Andererseits hat er durch das Motiv des Fluges einen indirekten Bezug zur Lyrik der englischen Autorin hergestellt. Die Flugbewegung macht sich nicht zuletzt durch die Unschärfe an den auslaufenden Flügeln bemerkbar.
Die kühlen Schwarzweißkontraste, die Monumentalität der Bildformate, die schräge, drastisch verzerrte Unteransicht nach oben auf die fliegende Taube mit 
ihren gespreizten, aggressiv wirkenden Krallen charakterisieren das fliegende Tier hier nicht etwa als bekanntes Attribut des Friedens. Vielmehr kommt in diesem Fall die sekundäre kunsthistorische allegorische Bedeutung zur Anwendung: die Taube als Attribut der Venus, der Liebe, allerdings in einem gebrochenen, negativen Kontext.4
Neben der Kongruenz von Wort (Gedicht) und Bild (Gemälde) ist es nicht zuletzt die düstere Grundstimmung beider Gemälde, welche mit der
psychischen Befindlichkeit Plaths in Einklang steht (gescheiterter Selbstmordversuch, Depression, Selbstzerstörung, Todessehnsucht). Was 
Elisabeth Bronfen als das „traumatische Wissen um die Allgegegenwärtigkeit des Todes im Leben“ bei Plath erklärt5, zeigt sich im Gemälde durch den aggressiven Flug der Taube mit gespreizten Krallen, welche angriffsbereit auf uns Betrachter gerichtet sind. Die Darstellung dieses unheilvollen Fluges erinnert auch in stilistischer und motivischer Hinsicht an die englische Romantik (Füßli oder Blake), was an anderer Stelle genauer analysiert werden könnte.


Stürzen

Der Bilderzyklus Block 11. September ist seit 2003 in Arbeit und setzt sich weiter fort. Er umfasst 14 Gemälde, deren Bildvorlagen unter anderem aus einer Bildstrecke der Zeitschrift „Stern“ von 2001 stammen. Eine Gruppe von Gemälden aus dieser Serie ist hinsichtlich des Flugthemas besonders prägnant, Marius Heckmann bezeichnet sie die Stürzenden, welche in Form einer Wandinstallation als eine Arbeit zu verstehen ist. 

Auf einem quadratischen, großformatigen Gemälde wird man erst bei genauerem Betrachten der stürzenden Person mit ausgebreiteten Armen
gewahr, die mit dem Oberkörper nach unten ins Nichts fällt. Ähnlich schemenhaft erscheint auf einem weiteren Gemälde eine Person, welche ohne Halt rücklings in die Tiefe stürzt. Den beiden Fallenden, die auf den ersten Blick abstürzenden Vögeln gleichen, begegnet man in einer anderen Arbeit wieder: In einem überlebensgroßen Gemälde, das mit seinem auffallenden Hochformat die Form eines der Twin Towers nachzuzeichnen scheint, erkennt man hier nur noch unmerklich, fast verschwindend klein – zwei Stürzende. Sie befinden sich am linken oberen und am rechten unteren Bildrand des monumentalen Gemäldes, was ihr unaufhaltsames Stürzen auf formal ästhetischer Ebene um ein weiteres betont.
Die verdrehte Haltung des Stürzenden erinnert an die Darstellung des Ikaros im Kupferstich des niederländischen Manieristen Hendrik Goltzius (1588), in welchem der Antiheld als einer von vier antiken Himmelsstürmern zu Boden fällt. Seine Gliedmaßen sind in dieser machtlosen Position des unaufhaltsamen und ungewollten Stürzens stark verdreht.

Ein Frauenportrait vor ockerfarbenem Hintergrund, das ebenfalls zur Serie gehört, erschließt sich aufgrund der verzerrten Darstellung erst im Laufe der Betrachtung. Die Wahl der Anamorphose, welche die unverzerrte Betrachtung des Bildes nur aus einem bestimmten Standpunkt erlaubt, lässt an Holbeins Gemälde „Die Gesandten“ (1533) erinnern, in welchem der Totenschädel anamorphotisch als memento mori dargestellt ist. So könnte man auch hier in der anamorphotischen Präsentation der Frau ein Todessymbol erkennen. 
Zur Serie gehört auch das „Portrait F.D.“ (2005-07), das ein Close-Up eines ins Licht blinzelnden Mannes mittleren Alters zeigt. Hier wird die Form zur Metapher: Die schwachen Farben verweisen auf das Verschwinden des portraitierten Frank Doyle, eines New Yorker Brokers, der am 11. September 2001 starb. Gleich einer verblassten Fotografie, deren visuelles Beweisstück über die physische Präsenz des Portraitierten erhaben ist, kann das Verschwinden der Darstellung gleich einer Antizipation des kommenden tragischen Todesereignis des Dargestellten verstanden werden.

Die unzähligen Fotoaufnahmen der Fallenden am 11. September 2001, dessen exzessives Photographieren Elisabeth Bronfen mit dem psychoanalytischen Begriff der „Schutzschichtung“ („protective fiction“) erklärt6, scheint in den Gemälden des Block 11. September von Marius Heckmann gebannt worden zu sein. Das Luhmannsche Diktum „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“7 hat sich im vorliegenden Bilderzyklus jenseits des schnellen medialen Spektakels zu einem in der Zeitlosigkeit erstarrten Raum verdichtet.


Schweben und Taumeln

Im Triptychon „Die Liebe, der Haß, der Schmerz“ schließlich kann man weitere Formen des Fliegens beobachten: Schweben und Taumeln. Die Trilogie, von der uns im folgenden zwei Bilder interessieren werden, war 2004 im Berliner Schwimmbad Oderbergerstraße zu sehen. Als Ausgangspunkt für das Triptychon galt das Gemälde „Die Enthauptung des Hl. Johannes des Täufers“ des niederländischen Barockmalers Gerrit van Honthorst. Sein Gemälde, das den unmittelbaren Moment vor der Enthauptung darstellt und dessen dramatische Lichtführung auf Caravaggio zurückgeht, zeigt einen Engel links oben im Bild.

In derselben Haltung und an derselben Stelle wiederholt Marius Heckmann in seinem Gemälde „Die Liebe“ diese Engelsgestalt. Allerdings blendet er alle weiteren Personen und Objekte von Honthorsts Gemälde aus. So sieht man um so deutlicher den Engel in der linken oberen Ecke eines ansonsten leeren, in grau gehaltenen monumentalen Bildraums. Der Engel, entmaterialisiert und leicht, befindet sich in einem Schwebezustand: Während ein weißes langes Tuch schwungvoll um seine Hüften geschlungen ist, beugt er sich, von warmem 
Licht angestrahlt mit offenen Armen nach unten. Gleichsam als Paar der christlichen Ikonographie – Liebe und Hass – steht dem Engel in einem
 weiteren Gemälde eine individuelle ikonographische Komposition eines drachenartigen Wesens gegenüber in der Allegorie des Hasses. Es befindet sich zwar ebenfalls in einer schwungvollen Drehbewegung, jedoch nicht schwebend, sondern vielmehr taumelnd. Diesmal schauen wir von oben herab auf den sich windenden Drachen, der sich in den Abgrund der Hölle treiben lässt. Die unterschiedlichen Flugarten der beiden Wesen scheinen das Muster der christlichen ikonographischen Konnotation von gut (schweben) uns böse (taumeln) zu demonstrieren. Die Betrachterposition, von unten nach oben wie in einen Himmel zu blicken, und die starken Drehbewegungen markieren die Rezeption des dynamischen Raumillusionismus des Barock.

Der Aspekt des Fluges erweist sich in den Gemälden von Marius Heckmann als eines der Schlüsselmotive seiner vielschichtigen Ikonographie. Sei es die Bewegung des Fluges mit literarischen Referenzen, sei es ein Stürzen im Kontext medialer Bildwelten, oder schließlich ein Schweben und Taumeln in der Reflexion barocker Allegorien – das Konzept des Fluges wird in den Arbeiten von Marius Heckmann auf komplexe Weise verdichtet.

Anmerkungen

1 Marius Heckmann, im Gespräch mit der Autorin, November 2007.Ebd.

2 Ebd.

3 Engl. Originalversion in: Sylvia Plath: Collected Poems. Hrsg. V. Ted Hughes, London
Boston 1981, S. 193. Deutsche Übersetzung in: Elisabeth Bronfen: Sylvia Plath.
Frankfurt/ Main 1998, S. 156.

4 Lexikon der Kunst, Leipzig 1987, Bd.1, S.335

6 Daniele Muscionico: Das Bild hat immer Recht. Die Diskussionsveranstaltung zur
Ausstellung „Here is New York“ im Kunsthaus in: Neue Züricher Zeitung, 7.Januar 2008

7 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, 3.Aufl.2004, VS Verlag für
Sozialwissenschaften, Wiesbaden S.9