A Single Day
Zum 9/11-Zyklus Fading von Marius Heckmann
von Stephan Weitzel

Wäre der Arbeitsprozess des Malers Marius Heckmann der englischen Sprache vergleichbar, so stünde er in der progressive tense. Auch wenn ein Gemälde beendet ist, so bleibt es in Aktion.
  Seine Werke sind keine Historienmalerei, aber Bilder zur Geschichte, Bilder mit Geschichte. Oft sind es Bilder von Bildern, die er analysiert und transponiert, die den Prozess dieser Umwandlung herausfordern. Er lässt sich vom Thema wählen, bereit, dann die Arbeit zu beginnen.
Marius Heckmann gründet sein Schaffen teils auf allgemein bekannten Bildern, auf einer größtenteils zeitgenössischen Ikonografie. Es geht um Auswahl und um das Herstellen von Zusammenhängen. Mit diesem selektiven Griff und der assoziativen Verknüpfung vermeidet er das Tautologische.

Der Maler benutzt eine Kombination aus Öl und Tempera. Dieses Prozedere erlaubt durch kürzere Trocknungszeiten ein zügiges Voranarbeiten. Schnell ist das Gemalte jedoch nicht, es ist eher ein geologischer Aufbau von Bildschichten, die der Dichte der Geschichte im Bild entsprechen. So sind auch die einzelnen Leinwände, die den Zyklus Fading konstituieren, nicht nur mehr oder minder reich gewirkte screens, sie sind auch eine Schichtung in narrativer, chronologischer Hinsicht.

Ein Maler zu Nine-Eleven? Ein analog arbeitender Künstler zu einem digitalen Weltereignis? Marius Heckmann hat sich der schwierigen Herausforderung gestellt, sich mit seinen Mitteln auf die Auseinandersetzung mit der Jetztzeit einzulassen, auf unsere Epoche.
Wie zeigt ein Maler, der in dieser Serie gegenständlich arbeitet, die Hinführung zum Nichts, das Entstehen dieses Nichts, das Danach? Er malt Momente und das, was da ist. Einen Fetzen Himmel, der uns oft als das Weite, das Unbegrenzte erscheint. Doch der Himmel wurde zu etwas Anderem an diesem Septembertag.

Wer zu einem solch prominenten Thema, so utterly global, einen Bilderzyklus schafft, der tritt mit potenziell jedem Menschen in einen möglichen Austausch. Denn jeder, der an diesem frühen Herbsttag 2001 im Alter des Bewusstseins war, wird etwas zu erzählen wissen, wird wissen, wo er war, was er tat, mit wem er gesprochen hat. Der Maler Marius Heckmann sagt, er habe den 11. September, den Impakt der medialen Bilderkakophonie, als etwas irreal Schönes erlebt, trotz des Wissens um die  Katastrophe und um die mediale Ausblendung des Menschlichen.
Darf man so etwas sagen? Ja, man darf, umso leichter, wenn ein Werkensemble wie Fading daraus entsteht. Die neue Qualität von Nine-Eleven als das hyperglobale Echtzeitereignis schlechthin, das das 21. Jahrhundert mit einem makabren Feuerwerk eingeläutet und damit das Ende an den Anfang gestellt hat, hat jeden der planetaren Mediennutzer zum Teilhaber dieses Momentes gemacht. Damit gehört der Moment als Event uns allen. Während eine im Vergleich verschwindend geringe Anzahl von Menschen das Ereignis als intimstes Erleben wahrnehmen musste, wirklicher als wirklich, konkret also: die von innen, vom Standpunkt eines jeden einzelnen gesehen, grauenhaft große Menge an Menschen, die als Opfer, Angehörige, Bewohner, Nachbarn oder Helfer diese Realität nicht als Bild, sondern als Gegenbild auferzwungen bekam. Es ist also so, dass es selbst im Zeitalter der medialen Bilderflut eine Realität gibt, die noch verkörpert wird. Das Ereignis ist deshalb so schrecklich, sagt Marius Heckmann, weil die Opfer radikal verschwunden sind. Weil eben selbst diese Verkörperung, die jene Realität von der großen Bilderrealität noch unterscheidet, auch zerstört, weil sie aufgehoben worden ist.
Hätte er von den Anschlägen nur über Fotos und Berichte in der Presse erfahren, hätte er den Zyklus Fading wohl nicht geschaffen. Durch die Echtzeitübertragung haben Millionen Menschen weltweit, so auch der Künstler, dem  zweiten Einschlag des Flugzeugs und dann dem Einsturz beider Türme live - medial live - zugeschaut. Marius Heckmann hat sich später gefragt, wie es wohl gewesen wäre, hätte es zu dieser Zeit bereits Smartphones gegeben. Die Übermittlung und die Wahrnehmung von Realität sind abhängig von der verfügbaren Technologie. Hätte es sie gegeben, diese Bildtelefone, wäre die Katastrophe von anderer Beschaffenheit gewesen. So bleiben von den Opfern nur die Stimmen.
Der Maler setzt sich somit in der Ästhetik ebenfalls mit der neuen, digitalen Bildgeschichte auseinander, nicht nur mit der Tradition der Malerei. Es sind aber Gemälde, die nach den Regeln dieser Kunst gemacht sind und auch danach bewertet werden können.

Was ist zu sehen?

Ein Spannungsbogen vom Himmel-Prolog bis hin zum Irakbild.

Prolog zeigt einen Stück Himmel, durchzogen von einem kleinen Schwarm Möwen. Ein Bild, wäre es nicht eingebunden in diesen künstlerisch-historischen Kontext, das beinahe belanglos erschien. Und doch trägt es hier die Geladenheit in sich, die es nur rückwirkend erhält.
Ein Menschengesicht dann, verbunden im Titel mit einem Namen, Frank Doyle. Wissen wir, wer Frank Doyle ist, wer er war? Ein offenes Lachen blickt uns entgegen, ein fröhliches, entspanntes, unschuldiges Gesicht. Der ideale Schwiegersohn. Ein Bild, das als Foto im Silberrahmen auf dem Nachttisch stehen könnte. Hier aber ist es überlebensgroß, monumental fast. Das inhärent Morbide der Fotografie, insbesondere der Porträtfotografie, auf die dieses Gemälde sich bezieht und derer es sich bedient, wird durch das Medium Malerei in Klammern gesetzt. Nicht Momentaufnahme, eher das, was in der Kunstgeschichte Gisant genannt wird, eine ruhende Grabfigur wie sie auf Königsgräbern zu finden ist, in feinstem Marmor ziseliert. Hier wird die Malerei zur Erinnerungsskulptur, zeitenthoben, nicht zeitstarr, nicht instant, nicht wie Sofortlösliches. Dennoch trägt dieses vom Künstler geschaffene Bild die Bedrohung der Auslöschung in sich. Auslöschung des (eigenen) Lebens, Auslöschung der Erinnerung anderer an dieses Leben. Es ist eine der dringlichsten Triebkräfte des künstlerischen Schaffens schlechthin, dem entgegen zu wirken. Die Farben, die Marius Heckmann hier zum Einsatz bringt, sind blass, sind fade. Fading.
Auch wenn Verblassung droht, so müssen gerade wir, die Betrachter des Kunstwerks, den Faden aufrecht erhalten und geistig weiterspinnen durch alle Bildtafeln hindurch, bis zur letzten, oder besser, bis zur äußersten Konsequenz: Irak. Ein Schelm, wer dabei denken wollte, der Künstler habe hier angespielt auf die zu Kriegszeiten bekannte – auch in der deutschen Geschichte bekannte – Vergeltungstaktik, einen „eigenen“ Toten mit einer Vielzahl von gegnerischen Toten wenn schon nicht heilig, so doch „heldig“ zu sprechen. Seinen Tod zu waschen im Blut der anderen. Wie Haarspülwerbung: weil ich es wert bin.

Die Auslöschung, in diesem konkreten Fall die Auslöschung des Börsenmaklers Frank Doyle, zeigt Marius Heckmann sich über drei Etappen entfalten, gewissermaßen in einem Triptychon innerhalb des Zyklus. Vom erwähnten Porträt, dem Bild der Unversehrtheit, springt die Bildfolge zu einer nüchternen Zahl, einer digitalen – gemalten! – Uhrzeit in klaren Konturen über anderen, schon verschwindenen Ziffern, über verflogener Zeit, alles zusammen eine Masse, eine Stofflichkeit von Zeit, die aber in diesem Augenblick, eine Minute vor zehn, zum Stillstand kommt. Mit dem Einsturz des Südturms wird ausgelöscht, was gerade noch war. Malerei schafft das zu zeigen, sie synthetisiert. Auch von innen. Denn: es gibt nichts zu sehen. Gerade das ist so grausam für eine Zuschauerschaft, die dem Freiraum ihrer eigenen Vorstellungsgabe ausgesetzt ist, verwöhnt wie wir sind, alle „Realität“ bis in die vermeintlich winzigste Ausformung durchdekliniert vorgesetzt zu bekommen. Durch die Abstrahierung der Zeit und die Bündelung all dessen, was in ihr steckt, schafft Marius Heckmann das adäquate Bild dieses Augenblicks. Der dann, in der dritten Tafel, einem schmalen, hochkant stehenden Stück Leinwand als „verschwunden“ betitelt das Danach zeigt, das, was nach Rauch und Schutt bleibt. Ein blaues Etwas, ein anderes Stück Himmel, nicht strahlend zwar wie zuvor, doch hell. Ein Stück Leinwand als Himmelssarg.

Die Titel des 18 Werke umfassenden Zyklus Fading lesen sich wie Drehbuchexzerpte – abstrahierte Codes für Szenen, die noch zu shooten wären. Sie entfalten als Sprachfolge eine Narration. Besonders die mit o.T bezeichneten – oder eben gerade nicht bezeichneten – Stationen lassen in ihrer Zurückgenommenheit Schlimmstes befürchten. Die Titel stehen als Chiffren und treten bisweilen an die Grenze des Sagbaren, das auch nicht gezeigt werden kann. Titel und Bilder allein versagen. Was sie zeigen oder aussagen, kann nur in der Ergänzung durch unser eigenes Wissen, das persönlich-intime und das öffentlich-globale, Sinn finden. Als solche sind die Werke Platzhalter. Stimulanzen. Weiterleiter.

Fading ist ein Trauerfries.

Ein anderes Bild, Flieger I, verdeutlicht den Wechsel in ein neues Zeitalter, zeigt den abrupten Übergang ins 21. Jahrhundert. Kompositorisch in zwei exakt gleichgroße Quadrate aufgeteilt fungiert das Querformat wie eine Zeitleiste: links, vor sattem Blau, das Davor, die alte Welt, die alte Weltordnung, die kurz darauf schon lediglich als ein Dazwischen gesehen werden wird, rechts die bedrohliche und bedrohte Architektur mit den unsichtbaren Menschen. Das Flugzeug „liegt“ – fasst scheint es einem Haifisch gleich zu schwimmen – auf der alten Zeit, nur die Nase ragt schon visuell hinein in das, was einen Sekundenticker später Jetztzeit sein wird.

o.T., das elfte Bild des Zyklus, zeigt die Rückenansicht einer Gruppe dunkel bekleideter und behüteter Männer. Behütet? Mit Kopfbedeckung, wäre richtiger. Orthodoxe Gläubige, wie aus der Zeit gefallen. Eine Straßenszene mit einem Stückchen Auto, einem Happen Grün und, in der linken Ferne, einem Fetzen Himmel, in den die beiden qualmenden Türme des World Trade Center ragen. Doch die Blicke der Männer sind nicht alle auf das Unglück gerichtet. Vielmehr scheinen sie einem ihrer Gruppe zuzuhorchen. Was sie wohl hören mögen?
  Trotz der Beredsamkeit der Szene ist dies ein stilles Bild, ein schweigsames. Etwas in seiner Szenerie, in seiner Machart und in der Vibration der Endlichkeit lässt an Courbets „Enterrement à Ornans“ denken, dieses Beerdigungsbild eines anderen Realismus. „Der Realismus ist seinem Wesen nach eine demokratische Kunst“, meinte Courbet.
  So ist der Realismus, der den Tod zeigt, oder der eher zeigt, dass der Tod nicht zu zeigen ist – auf die Gefahr hin, tautologisch zu sein – das demokratische Äquivalent des Todes selbst, der letzten Instanz der Gleichheit in der Wertigkeit. Durch Marius Heckmanns New Yorker Beerdigungsszene, zu der keiner der Beteiligten gebeten worden ist, die ad hoc aber aus jedem Passanten einen Trauergast macht,  wird die Schichtung des Schauens deutlich. Die Augen des Lesers blicken auf diese Zeilen, die auf das von Marius Heckmann Gemalte schauen. Sein Bild betrachtet und verdichtet das fotografisch Vorhandene. Das Objektiv-Auge des Fotografen ergreift, als Schnappschuss und in Unwissenheit der rücklings Porträtierten, die Szene der Schauenden, der Horchenden. Die Gruppe der schwarz berockten Männer beobachtet, ob beim Überqueren der Straße, ob nach unterbrochener Fahrt, die Katastrophe im Hintergrund, und scheint darüber zu sprechen. Doch nur durch den Bildausschnitt wird das Inferno nach hinten gerückt, um besser zu zeigen, wer wir sind, die wir die Türme, zunächst die lodernden, dann die stürzenden, durch die globale Medienflut als full screen auf dem ersten Plan unseres Betrachtens hatten, bigger than life. In „betrachten“ steckt auch „trachten“. So ist unsere Abhängigkeit von „realen“ Bildern, die unsere Wirklichkeit geworden sind, Voraussetzung gewesen für das Kalkül der Terroristen, ein Kalkül, das zur Perfektion aufgegangen ist. Auch darin liegt, hinter der Wut und hinter der Trauer um die menschlichen Verluste, die Schmach, mit so simplen Waffen zu einem so hohen Preis besiegt worden zu sein, unter Geiselnahme aller, die wir dergestalt zu Mittätern gemacht worden sind.

Ein weiteres Gemälde ist die hochformatige, just die Höhe eines modernen Großraumbüros einnehmende Leinwand Fading, die dem Zyklus seinen Titel gibt. Mit ihr lenkt Marius Heckmann den Fokus zurück vom Schauenden zum Beschauten. Es gelingt diesem Bild, universelle Empathie zu fordern und zu liefern, denn: Ich könnte das sein, Du könntest das sein, diese beiden Chromosomen im freien Fall, verglimmende schwarze Glühwürmchen am Taghimmel. In perfekter Harmonie halten die beiden dunkleren Formen die hohe leere Fläche, die als solche die Proportionen eines Turmes aufgreift, im Gleichgewicht. Doch nichts ist diesem Bild ferner als uns in Frieden zu lassen. Was Festhalten einer Bewegung ist, wird hier zum schwebenden Loop. Der Fall, der nicht vollendet ist, der Fall also, der zu keinem Abschluss kommen kann, zu keiner Erlösung. Von Fading keine Spur.

Stephan Weitzel, Berlin, 2014